Der Ruf der neuen Zeit revolutioniert die Bühne

Sybille Lambrich,Rob Petzer, David Jakobs und Bettina Mönch (Foto: Björn Hickmann)

SONGS FOR A NEW WORLD – das erste Musical mit Corona im Dortmunder Opernhaus ist ein Meisterstück.

Vier Darsteller, jede Menge Kostüme und 16 Geschichten, die das Leben schreibt – verpackt in virtuose Musikstücke. Ein Musical par excellence für die pandemische Spielzeit.

Ob Jason Robert Brown sich wohl hätte träumen lassen, dass sein Musical im Jahr 2020 ein Revival erlebt? Man könnte denken, er hätte es aufgrund der Coronaverordnung konzipiert, denn alle Auflagen scheinen in seinem Stück wie selbstverständlich umsetzbar. Dass Regisseur Gil Mehmert das erkannt hat, zeugt von Zeitgeist und Genrekenntnis. Und was gut war, sollte noch besser werden. So entwarf Mehmert auch das Bühnenbild. Entstanden ist eine corona-konforme Aufführung, die nichts, aber auch gar nichts vermissen lässt – außer vielleicht einen Blick auf die Dortmunder Philharmoniker, die im Orchestergraben versteckt ihr Publikum verzaubern.

SONGS FOR A NEW WOLRD – auf dem Sprung in eine neue Zeit

Sybille Lambrich, Bettina Mönch, David Jakobs und Rob Pelzer schlüpfen während der 80-minütigen Vorstellung in Rollen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie verkörpern Menschen, für die sich im nächsten Augenblick das Leben grundlegend ändern wird. Ob zum Guten oder Schlechten ist oft nicht vorherzusehen – ganz wie im Leben. So stehen Lebemänner, Abenteurer, Obdachlose, Verlassene, Eroberte, Sportler, Ehepaare, Sterbende, Kriegszeugen und sogar die Frau vom Weihnachtsmann für den multikulturellen Mix der Gesellschaft. Und somit gibt es jede Menge Identifizierungspotenzial für die Zuschauer. 

Ein Wechselbad der Gefühle – zwischen Tränen und Erotik

Emotionsgeladen ist der Theatersaal und die Zuschauer scheinen die Wechselbäder in vollen Zügen zu genießen. Es ist ein anspruchsvoller Marathon, denn der rasche Wechsel will mental verkraftet sein. War man gerade noch voller Mitleid für eine arme, reiche Ehefrau am Rande des Abgrunds (NUR EIN SCHRITT  – Bettina Mönch), nahm Sybille Lambrich mit in die freudige Euphorie einer mutigen Braut (ICH HAB NIE ANGST). Doch das Glück ist nicht von Dauer, denn schon macht sich bittersüße Melancholie auf der Bühne breit (STERNE UND MOND). Spätestens beim WIEGENLIED ZU WEIHNACHT können die ersten ihre Tränen nicht zurückhalten. So unerschütterlich der Glaube einer obdachlosen werdenden Mutter in den Straßen New Yorks auch ist, so aussichtslos scheint ihr eigenes Glück und das des Kindes. Sie hält der Gesellschaft den Spiegel vor und man erkennt sich – unter Tränen. Doch das Stück wäre nicht so perfekt, gäbe es nicht auch einen vermeintlich humoristischen Gegenpol; wenn nämlich die Frau vom Weihnachtsmann ihrem Frust über den ignoranten Ehemann lautstark Luft macht. Eine Szene, in dem übrigens mancher Mann gerne mit dem Weihnachtsmann tauschen würde – Erotik overload.

DIE FLAGGENMACHERIN – ein Gänsehautmoment

Natürlich einer von vielen, aber diese Episode transportiert mit einer umwerfenden Bettina Mönch einen ganz besonderen Spirit in den Zuschauerraum. Eine Frau in New York wartet auf das Ende des Krieges und die Heimkehr eines Soldaten. Eigentlich ist zu Beginn der Szene schon alles gesagt, doch die wahre Kraft offenbart sich erst zum Ende, als die Flaggenmacherin wie von Zauberhand und mit den einfachsten Requisiten zur imposanten Freiheitsstatue mutiert, die unerschütterlich über der Bucht ihre Frau steht. Ein Sinnbild, für ein modernes Amerika, was Hoffnung und Kampfgeist vereint und sich kraftvoll aufmacht in eine neue Zeit.

Der Ruf einer neuen Zeit

Die Inszenierung ist eine großartige Entschädigung für die künstlerische Durststrecke. Sie entlässt das Publikum in eine neue Welt, die voller Chancen steckt, die nun entdeckt werden wollen. Hoffnungslosigkeit hat keinen Platz, Positivität ist angesagt und der Ruf einer neuen Zeit kling noch in der Seele; längst nachdem die Darsteller unter Jubel, standing ovations und ausgelassener Begeisterung ungern von der Bühne entlassen wurden. Bravo, Theater Dortmund!

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Tanja Rösler

Sybille Lambrich

Mit DER Musicalhauptrollen aller Musicalhauptrollen gab Sybille Lambrich ihr Debüt in Dortmund: Sie sang 2019/20 die Zweitbesetzung der Maria in der Neuproduktion von West Side Story

Bettina Mönch

Das Dortmunder Debüt von Bettina Mönch war besonders eindringlich: Als vom Schicksal gebeutelte Prostituierte Lucy in der aufsehenerregenden Produktion von Jekyll & Hyde bewies sie nicht nur ihr tänzerisches Talent, sondern berührte das Publikum mit ihrem eindringlichen Spiel.

David Jakobs

Der aus Mönchengladbach stammende David Jakobs stand schon mehrfach auf der Bühne des Dortmunder Opernhauses. Mit so abwechslungsreichen Partien wie Jerry Lukowski (The Full Monty), Judas Ischariot (Jesus Christ Superstar) und nicht zuletzt die nervenaufreibende Doppelrolle von Dr. Jekyll und Mr. Hyde rief er wahre Begeisterungsstürme hervor.

Rob Pelzer

Der in der Niederlande geborene Musicaldarsteller Ron Pelzer gibt mit Songs For A New World sein Debüt an der Oper Dortmund. Seine künstlerische Ausbildung erhielt er in den prestigeträchtigen Musical-Metropolen Amsterdam, London und Wien.

Musikalische Leitung Christoph JK Müller, Sebastian Engel
Regie und Bühne Gil Mehmert
Kostüme Falk Bauer
Choreografie Jörn-Felix Alt
Licht Ralph Jürgens
Dramaturgie Laura Knoll
Studienleitung Thomas Hannig
Produktionsleitung Fabian Schäfer
Regieassistenz Dominik Kastl
Bühnenbildassistenz Dina Nur
Kostümassistenz René Neumann
Inspizienz Ulas Nagler, Alexander Becker

Musik und Gesangstexte von Jason Robert Brown • Originalproduktion durch das WPA Theater, New York City, 1995 (Kyle Renick, Artistic Director) • Originalorchestrierung von Brian Besterman und Jason Robert Brown • Deutsch von Wolfgang Adenberg • In deutscher Sprache

Besondere Zeiten verlangen besondere Maßnahmen – und besondere Stücke! Songs For A New World ist sowohl inhaltlich wie auch formell ein durchaus ungewöhnliches Musical, in dem weniger mehr bedeutet und im Kleinen Großes verhandelt wird. Die insgesamt 18 revueartig aneinandergereihten Songs und Szenen sowie 16 voneinander unabhängigen Geschichten verknüpft Komponist und Autor Jason Robert Brown, dreifacher Gewinner des Tony-Awards, durch das individuelle Erleben des einzigartigen Augenblicks: der Moment vor der Entscheidung, die alles verändert. In intimen Charakterstudien verkörpern vier Sänger:innen die unterschiedlichen Figuren mit ihren jeweiligen Konflikten. Begleitet werden sie von einem Instrumental-Cast bestehend aus Bass, Schlagzeug, Keyboard, Perkussion und Klavier, der die Situationen mitreißend untermalt. Browns Komposition mit ihren Anklängen an Pop, Gospel, Jazz und Funk sorgt dabei abwechselnd für gute Laune, Gänsehaut und lässige Grooves! Es beten 1492 die Geflüchteten auf einem spanischen Segelschiff inständig für ein besseres Leben in der Neuen Welt, in die sie aufgebrochen sind. In der Gegenwart überlegt eine reiche New Yorkerin, ob sie aus ihrem Penthouse-Fenster springen soll. Und am Nordpol setzt sich die Frau des Weihnachtsmannes mit einem möglichen Betrug ihres Gatten auseinander und dem Gedanken, ihn nach langen und oft einsamen Ehejahren zu verlassen. Unternehmen die Protagonist:innen den Schritt in eine ungewisse Zukunft oder reicht es ihnen, lediglich von ihr zu träumen? Gil Mehmert gehört zu den führenden Musical-Regisseuren dieser Tage. An der Oper Dortmund stellte er dies bereits mit seinen Inszenierungen von West Side Story sowie zuletzt Jekyll & Hyde eindrucksvoll und erfolgreich unter Beweis. Mit dem 1995 uraufgeführten Songs For A New World widmet er sich nun einem besonderen Kleinod der Gattung.