Genie und Wahnsinn treiben ihr (Un-)Wesen im Theater Dortmund

David Jakobs in den Titelrollen (© Björn Hickmann)

Standing Ovations und Klatschtiraden waren das Ergebnis einer mitreißenden Premiere in Dortmund. 

Die Bühnenfassung von Stevensons Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ macht sich hervorragend im Opernhaus und bietet dem Publikum ein fantastisches Musical in der Spielzeit 2019/2020. So zeitlos wie der Stoff um den Kampf von Gut und Böse sind auch die ausgewählten Charaktere des Bühnenstücks. Nahezu jeder menschliche Abgrund ist vertreten und fordert – mehr oder minder erfolgreich –seinen Platz in der Gesellschaft. Verwunderlich oder bezeichnend, dass ausgerechnet das Böse die Bösen besiegt bzw. ermordet. Denn diese „rettende“ Maßnahme übernimmt einzig Edward Hyde;  Alter Ego des doch so tadellosen Dr. Henry Jekyll. Mit weißer Veste im wahrsten Wortsinn lernt das Dortmunder Publikum den angesehenen Arzt in der Verlobungsszene kennen und ist auf seiner Seite. Wie wunderbar könnte das Leben doch sein, wenn alles Böse eliminiert und Jekyll an der Seite seiner Verlobten Lisa ungestört seinen Forschungen nachgehen könnte. Wer das glaubt, hat die Rechnung ohne Lords, Ladys, Generäle und Bischöfe gemacht. Sie allesamt verkörpern die einflussreiche Gesellschaft des Londons im 19. Jahrhundert und können beliebig auf die Istzeit adaptiert werden. Vermeintlich gelingt es ihnen die Forschungen des Dr. Jekyll zu verhindern, doch der mutige Märtyrer Henry stellt seinen Körper selbst in den Dienst der Wissenschaft um mit Selbstversuchen das Böse zu zerstören. Dass es misslingen muss ist klar. Nicht einfach so, sondern mit einer großen Portion Verlockung in Form einer Prostituierten, die als Synonym für ein aufregendes, düsteres Entkommen aus täglichem Schönsinn sein kann. 

Die Macher des Musicals gehen wohl davon aus, dass in jeder menschlichen Brust zwei Herzen schlagen und der Kampf von Gut und Böse authentisch nachempfunden werden kann. Wenn dem so ist, lässt sich die große Begeisterung des Publikums über die herausragende Leistung des David Jakobs in der Doppelrolle von Henry Jekyll und Edward Hyde gleich zweimal nachvollziehen. Zum einen, weil Hyde sich nicht scheut die dunkle Seite mit aller Macht walten zu lassen, zum anderen weil es der Musicaldarsteller versteht sich vor aller Augen und ohne Hilfsmittel (außer Brille und Haargummi) zu verwandeln. Neben Gestik und Mimik hat David Jakobs eine Geheimwaffe: seine Stimme. Es sind zunächst Nuancen, an denen das Publikum erahnt, dass der düstere Hyde im Anmarsch ist, um sich Sekunden später von der gewaltigen Präsenz des monströsen Mörders schon allein gesanglich in den Bann ziehen zu lassen. 

Musikalischer Höhepunkt ist für Musicalfans sicher Jekylls Solo „Dies ist die Stunde“. Bei der Premierenvorstellung hätte nicht viel gefehlt und der lautstarke Szenenapplaus für David Jakobs wäre in eine Klatschtirade übergegangen; mitten im Stück. Gänsehaut pur!

Die beiden weiblichen Protagonisten sind ebenfalls Musicaldarsteller. Bettina Mönch in der Rolle der Lucy Harris schürt mit vollem Körpereinsatz Männerfantasien und bedient gesanglich Hure und liebende Frau mit brillanter Differenz. 

Die gut situierte, verständnisvolle Lisa Carew, Jekylls Verlobte, wird in Dortmund von Milica Jovanovic gespielt. Sie verzaubert das Publikum mit ihrem himmlischen Sopran und intoniert so Beistand und bedingungslose Liebe zu ihrem Henry Jekyll. 

Zu einem fulminanten Ganzen wird das Projekt durch das Ensemble, den Opernchor des Theater Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Philipp Armbruster.

Licht, Kostüm und Bühne lassen das Publikum ins 19. Jahrhundert eintauchen. Beim Abstieg in Hydes Labor zeigt sich, wozu moderne Bühnentechnik fähig ist und dass einem auch noch so aufgeklärten Publikum Aha-Effekte geboten werden können. 

Auf nach London – mitten in Dortmund!

Fotos © Björn Hickmann